- Denken: Wahrnehmen, Erinnern, Wollen und Handeln
- Denken: Wahrnehmen, Erinnern, Wollen und HandelnTheodor Elsenhans schrieb in dem 1912 erschienenen, damals repräsentativen »Lehrbuch der Psychologie« über das Denken: »Beim Denken beobachtet man erscheinungsmäßig immer wiederkehrende Bezüge. Man nennt den Inhalt eines Gedankens im jeweiligen Zeitpunkt eine »Vorstellung«. .. Die Selbstbeobachtung offenbart ferner, dass im Denkvollzug sich Gedanke an Gedanke reiht, dass ein »Strom des Bewusstseins« (William James) besteht, der keine Lücke kennt; was jedermann an sich beobachtet. .. Drittens besitzt das Denken offenbar die Möglichkeit, erkenntnismäßig zu einem folgerichtigen Aufbau von Zusammenhängen zu kommen. Es ist das jene alte Welt der Logik, die formal Begriffe, Urteile, Schlüsse sonderte.«DenktheorienHeute würde kaum noch jemand so über das Denken schreiben. Alle drei Punkte der Denkcharakteristik von Elsenhans und seinen Zeitgenossen sehen die neueren Denktheorien anders. Zum ersten Punkt, der Annahme von »sicheren Vorstellungen« (von denen er anschließend spricht) als Grundsubstanz unseres Denkvermögens, heißt es in einem 1992 von David Krech und Richard Crutchfield veröffentlichten Lehrbuch unter anderem: »Der rapid arbeitende Digitalcomputer übt einen dominierenden Einfluss auf die zeitgenössische Erforschung der höheren geistigen Prozesse aus. In diesen neueren Entwicklungen in der Kognitionspsychologie ist das Konzept der Organisation aufs neue wichtig geworden. Obwohl die höheren geistigen Prozesse schwierige Herausforderungen für die Psychologie sind, hat diese neue Freiheit, in Kategorien der kognitiven Organisation zu theoretisieren, diesen zentralen Forschungsbereich mit neuem Leben erfüllt.« Nicht mehr die »Vorstellung« allein, sondern vielgestaltige »organisierte Eindrücke« umfassen den Forschungsgegenstand der Kognitionspsychologie.Elsenhans' zweiter Annahme eines lückenlosen Stroms von einem zum nächsten Gedanken, der alle anderen psychischen Prozesse lenkt und das Seelenleben beherrscht, setzt man heute eine bescheidenere Funktion des Denkens entgegen. Die bekannte »Einführung in die Psychologie«, 1981 von Peter Lindsay und Donald Norman verfasst, bemerkt dazu: »Obwohl die Möglichkeiten des menschlichen Denkens eindrucksvoll sind, unterliegt es doch einigen interessanten Beschränkungen. Betrachten Sie die Begrenzung der Aufmerksamkeit: Die Konzentration auf eine Aufgabe verursacht im Allgemeinen einen Leistungsabfall bei anderen Aufgaben. Denken Sie aber auch an einige positive Aspekte: Bedeutungsvolle optische und akustische Signale können selbst dann gut wahrgenommen werden, wenn umfangreiches irrelevantes optisches und akustisches Material gleichzeitig vorhanden ist.« Das Denken gilt heute als weniger dominant als Anfang des 20. Jahrhunderts. Es ist ein psychischer Prozess neben anderen.Der dritte Punkt in Elsenhans' Beschreibung, die »logische« Funktion des Denkens, ist wohl am radikalsten unter dem Einfluss von Sigmund Freud abgebaut worden, der seine Aufmerksamkeit dem nicht logischen Unbewussten zugewandt hat. Philip Zimbardo bestätigt das in seinem 1992 herausgegebenen Psychologie-Lehrbuch: »Die Art des Denkens bewegt sich zwischen zwei Extremformen: dem autistischen und dem realistischen Denken. Autistisches Denken beinhaltet charakteristischerweise Fantasie, Tagträume und aus dem Unbewussten kommende Einfälle. Es ist mehr oder weniger ein die eigenen Bedürfnisse erfüllendes Wunschdenken, mit dem eine illusionäre Welt geschaffen wird, in der alles so ist, wie man es haben möchte. Bei jeglichem schöpferischen Wirken ist etwas autistisches Denken mit beteiligt. Tritt es jedoch sehr häufig auf oder stellt es bei einem Menschen den absolut vorherrschenden Denkstil dar, so darf man vermuten, dass er »keinen Kontakt zur Realität hat«. .. Beim realistischen Denken werden persönliche Wünsche und Meinungen der äußeren Realität untergeordnet und durch sie »korrigiert«. Erweisen sich unsere Gedanken unter Berücksichtigung der Realität als nicht haltbar, so sind wir geneigt und bereit, sie zu ändern und konsequenterweise auch das gedanklich motivierte Handeln.«Es ist heute keine Rede mehr von der Lotsenrolle des logisch-rationalen Denkens im Handeln und Erleben. Der Geist kann logisch denken und tut es auch oft. Aber Denken wird, wie Zimbardos Beschreibung zeigt, von nicht logischen Faktoren, unter anderem Emotionen und bereits vorhandenes Wissen, beeinflusst. Einige der gegenwärtig diskutierten Denktheorien zeigen, wie vielschichtig man die Denkarbeit des Menschen erklären kann.Die Umstrukturierungstheorie stützt sich auf eine Annahme, die schon Goethe zu dem Satz führte: »Denken ist ein Warten auf den guten Einfall.« Nicht unser »Ich« arbeitet also beim Denken, sondern »Es«. So würde es auch die Psychoanalyse sehen. Bei den Gestalttheoretikern hieß dieser Prozess »Umstrukturierung«: Wir verwandeln den bisherigen Erfahrungsschatz je nach gegebener Aufgabe. Der »gute Einfall« ist das positive Resultat dieses Prozesses. Demgegenüber setzt die Explorationstheorie auf die Attraktivität des Neuartigen. Jeder verfügt über eine Art Orientierungsreflex, der ihn zum geborenen Forscher macht. Sinnbild für die Theoretiker dieser Gruppe ist das Kind, das sein Spielzeugauto auseinander nimmt, um zu erfahren, »was dahinter steckt«.Die Faktorentheorie des Denkens hebt die qualitative Unterschiedlichkeit von Denkprozessen hervor. Entsprechend der Ergebnisse der Split-Brain-Forschung konzentrierte man sich besonders auf die in beiden Hirnhemisphären unterschiedliche Ausformung des Denkens, wobei die linke Hälfte mehr gefühlsneutrales Faktenwissen, die rechte überwiegend gefühlsbetonte Situationen produziere. Die alte Gegenüberstellung von Abstraktion und Einfühlung bei den Kunststilen (Wilhelm Worringer) erhält so eine neurophysiologische Untermauerung. Beide Formen sind jedoch wiederum aus unterschiedlichen Einflussgrößen (Faktoren) zusammengesetzt. Man erklärt die Verschiedenheit durch die Bündelung vieler psychischer Denkvoraussetzungen und kommt beispielsweise zu einer höheren Übereinstimmung (Korrelation) der Leistungen innerhalb der naturwissenschaftlichen oder der geisteswissenschaftlichen Fächer als zwischen ihnen.Die Stufentheorie des Denkens geht dagegen statt von Faktoren von Verarbeitungsstufen aus. Diese Stufen sind entwicklungsbedingt, das heißt, sie sind bei den Kindern erst im Entstehen, wobei manche denkschwache Erwachsene nicht über die Kleinkindstadien hinauskommen.Die Informationstheorie schließlich fußt auf dem kybernetischen Modell der »Reduktion von Ungewissheit«. Durch Entweder-oder-Fragen, vergleichbar mit der digitalen Arbeitsweise des Computers, schließt der Denkende das Nichtzutreffende wie beim Beruferaten (»manuelle oder verbale Tätigkeit?«) aus.Alle diese Theorien sind unterschiedliche Zugangsweisen, um Denken zu beschreiben. Keine kann aber das Denken insgesamt erklären. Denken ist ein vielschichtiger Prozess, der mit Wahrnehmen, Erinnern, Wollen und Handeln einen geschlossenen Kreis bildet.Sprache und DenkenSprache und Denken sind eng verbunden. Es gibt zwar auch ein vor-sprachliches Denken, das bei Tieren und Kleinkindern nachweisbar ist, doch der Erwachsene denkt zumeist in sprachlichen Metaphern. Die Psychologen nennen dieses vor-sprachliche Denken »ikonische Repräsentation«, weil es allein durch (nonverbale) Zeichen, Bilder, Symbole, Gesten, Schemata oder mithilfe optischer Signale hervorgebracht und übertragen wird. Der Vorteil des »verbalen«, begrifflichen Denkens besteht in seiner zusätzlichen Operationalisierbarkeit. Mit Sprache lässt sich genauer differenzieren, abstrahieren und kombinieren.Bildliches und sprachliches Denken beeinflussen sich gegenseitigDas sprachliche Denken ist jedoch umgekehrt auch durch Bilder mitbestimmt. Die seit dem 19. Jahrhundert von Denkpsychologen durchgeführten »Assoziationsversuche« werden heute nur noch selten angewandt, da man glaubt, kaum noch Neues durch sie zu erfahren. Als Demonstrationsexperimente sind sie aber immer noch interessant: Der Versuchsleiter ruft der Versuchsperson Wörter zu. Diese soll dann den ersten Gedanken aussprechen, den sie mit dem Wort verbindet. Die von Carl Gustav Jung entwickelte analytische Psychologie wendet dieses Verfahren zur Aufdeckung von Störungskomplexen an. Wenn der Teilnehmer bei einem Wort lange zögert, um eine Assoziation zustande zu bringen, glaubt man, bei ihm auf einen möglichen Störungskomplex gestoßen zu sein. Im »Normalfall« kommen die Bildvorstellungen ungebremst. Wenn beispielsweise das Wort »Baum« zugerufen wird, haben die Menschen recht unterschiedliche Vorstellungen eines Baumes parat, die gleichzeitig auch zeitbedingt abgewandelt sein können. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden bei den Erstassoziationen häufig kriegszerstörte Bäume genannt, später waren sie wieder schön und grün, heute drängen sich dagegen gehäuft Bilder vom Baumsterben vor. Bei diesen Versuchen wird deutlich, wie Vorstellungsbilder unbemerkt in unser rationales Denken einfließen.Ein psycholinguistisches Modell von Sprache und DenkenDie Psycholinguistik, die in den 1950er-Jahren aus der älteren Sprachpsychologie entstanden ist, versucht die Funktion der Sprache im Denken zu erklären, untersucht also das Denken von der sprachlichen Seite. Die Bedeutungstheorie als eine kybernetische Abwandlung dieser Forschungsgruppe versucht die vielfältigen Steuerungszusammenhänge beider Prozesse in einem Modell zu vereinen. Grundgedanke ist die kybernetische Auffassung von der Vernetzung aller Systeme (mechanischer, biologischer, psychologischer, soziologischer und politischer Art) im Sinne von Regelkreisen und Modulen (unter-, bei-, übergeordnete Muster mit Rückkopplungen). Dadurch kann das Zusammenwirken völlig unterschiedlicher Daseinsqualitäten (zum Beispiel Materie oder Information) erklärt werden. Die Brücke zwischen ihnen bildet nicht ihre Daseinserscheinung, sondern lediglich ihre Strukturierung.Materielle Nervenprozesse haben rhythmische und figurale Muster, ebenso wie die Informationen. Daraus folgt der kybernetische Schluss: Zwischen Stofflichkeit und Funktion vermitteln die Strukturen. Die stofflichen Trägerprozesse (zum Beispiel vier Takte beim Viertaktmotor) sind strukturiert, ebenso wie die Funktionen (Übertragung der Kraft in eine Drehbewegung mit dem Ziel der Fortbewegung). Beim Übergang von einem Seinsbereich zum anderen kann die Strukturierung modulierbar, aber nicht unabhängig, sondern nur »arbiträr« (teilfrei) abgewandelt werden. Die stofflichen Trägerprozesse im Nervensystem sind als elektrisches Rhythmussystem (elektrische Wellen, sichtbar im EEG) und chemisches Figurennetz (Signalvernetzung, messbar mit der PET) strukturiert. Auf der Seinsebene der Informationen sind die Prozesse ebenfalls durch Rhythmen (zum Beispiel Modulationen in der Nachrichtentechnik) und Vernetzungsfiguren (zum Beispiel in der Grafik) gestaltet, deren »Bedeutung« von Träger zu Träger transportiert werden kann (zum Beispiel von Mensch zu Mensch oder vom technischen Sender zum Empfänger).Im unteren Teil des Modells wiederholt sich der schon beschriebene psychophysische Aufbau von Träger T, Muster M und Bedeutung B. Dreh- und Angelpunkt ist das Muster M zwischen dem Träger T und der Bedeutung B, das heißt den psychischen Leistungen. Sie werden ergänzt durch den Mustervorrat M/V, zum Beispiel dem Sprachmuster einer jeweiligen Sprache, und S/E, einer Kombination aus Sender und Empfänger, die eine Person oder ein technischer Apparat sein können. Die vier Querstrecken verdeutlichen die verschiedenen Beziehungsmöglichkeiten im individuellen Feld: Die Kommunikation ist eine Möglichkeit der mitmenschlichen Beziehung für den Austausch von Bedeutungen. Information ist die Mitteilung von Sachinhalten mit nichtsprachlichen Beifügungen. Die Destination (das Ziel) ist die zweckdienliche und zielbezogene Verwendung von Bedeutungen. Die Konvention bestimmt den herkömmlichen Gebrauch der Einzelbedeutungen und ihrer Abwandlungen.Dieses Geflecht spiegelt die sehr komplexen Denkprozesse des Menschen wider. Der obere Teil des Modells zeigt, dass erst Sprache die zunehmend höheren Abstraktionsstufen des Denkens ermöglicht. Die Konkretion ist die sinnliche Stufe eines ausreichenden Anschauungsmaterials, um denken zu können. Die Prädikation gibt die Beispielebene wieder, die aus dem Anschauungsmaterial einen typischen, aber noch konkreten Sachverhalt abstrahiert. Die Komparation hebt aus dem konkreten Material Merkmale heraus, die nur noch im Denken existieren und dem grundsätzlichen Verstehen der Welt dienen. Die Reflexion, das heißt das reine Nachdenken, vermittelt die Begrifflichkeit, die sprachliche Symbole für Erscheinungen bildet, mit denen rein geistig gearbeitet werden kann. Immanuel Kant nannte das »Erkennen durch Begriffe«.Die seitlichen, zurückweisenden Pfeile ergänzen das Modell durch die Rekonjunktion, das heißt durch die jederzeit mögliche Rückwendung auf die Vorstufen, und durch die Hemmnisse, die durch den Einfluss der unteren Beziehungsstrecken entstehen: Informationen können einen Informationsüberschuss oder Wiederholungen erzeugen; Kommunikation behindert den Austausch unter anderem bei einem unterschiedlichen geistigen Niveau der Beteiligten; Destinationen stören durch unterschiedliche, unvereinbare Zielvorstellungen, und Konventionen führen zu starren Verallgemeinerungen und lassen Bedeutungen ungültig werden.Dieses Geflecht der Denkbedingungen kann bei verschiedenen Menschen zu einer grundsätzlich unterschiedlichen Art zu denken führen. Diese Tatsache berücksichtigt eine Forschungsrichtung, die sich mit den individuellen kognitiven Stilen beschäftigt.Wir denken häufig in bestimmten Schemata, denen wir uns aber meist nicht bewusst sind. Hierzu gehören bestimmte Überzeugungen, Gedanken und Denkstile, von denen unser Denken und Handeln begleitet und geprägt wird. Diese Schemata können unser Denken wegen der ihnen innewohnenden Automatismen beschleunigen; in der Komplexität unseres Alltags haben sie eine orientierende Funktion. Sie können auf unser Denken jedoch auch hemmend wirken und es erstarren lassen. Nicht selten sind »automatische Gedanken«, etwa in der Form »Alles, was ich anfange, geht kaputt«, »Niemand mag mich« oder »Alles langweilt mich«, Begleiterscheinungen oder Anlässe für depressive Störungen. Die kognitiv begründeten Therapien konzentrieren sich daher auf die Art und Weise, wie Informationen über die Umwelt und die eigene Person bewertet und organisiert werden, und versuchen, schädigende in positive Kognitionen (Überzeugungen, Gedanken, Denkstile) umzuwandeln. Verschiedene Psychologen unterteilen die Denkstile und versuchen, die jeweils vorherrschende Denkweise als Charaktereigenschaft in Beziehung zu anderen Eigenschaften der Persönlichkeit zu setzen.Der RoutinestilIn formaler Hinsicht werden vor allem der Routinestil und der heuristische Stil unterschieden. Routine wird häufig als eine Ausführung ohne innere Anteilnahme missachtet. Wenn man sich jedoch die täglichen Denkleistungen, zum Beispiel im Beruf, vergegenwärtigt, wird schnell klar, dass es unmöglich ist, sie ständig neu zu erleben und sie mit innerer Betroffenheit und intensiver Überlegung in Angriff zu nehmen. Das wäre völlig unökonomisch. Wir brauchen nicht nur ein automatisiertes Handeln, sondern auch ein schematisiertes Denken, um der Fülle der geistigen Anforderungen Herr zu werden.Ein Großteil der Denkleistungen, die der Alltag abfordert, sind logistischer Natur, das heißt, sie dienen dazu, unseren gewohnten Lebensstil zu pflegen und weiterzuführen. Entscheidungen im Supermarkt sind Beispiele für mehr oder weniger nebensächliche Wahlsituationen, die jeder »routiniert« ausführt. Manche von ihnen heben sich mehr heraus. Wenn wir in einem Lokal mit dem Problem konfrontiert werden, dass der Kellner nicht genau das Bestellte bringt, haben wir für solche kleinen Streitfragen Standardreaktionen parat. Der eine wird schimpfen und sein Recht verlangen, der andere wird abwiegeln und sagen, dass es ihm nichts ausmacht. Auf dieser Ebene besitzt jeder ein Repertoire gelernten Denkens, das fast automatisch zum Einsatz kommt. Seit dem Beginn der Forschungen zur »implizierten Persönlichkeitstheorie«, die sich mit den Denkmustern einzelner Personen beschäftigt, ist der qualitative Abstand zwischen den Ergebnissen der »naiven Verhaltenstheorie« (laienhafte Annahmen über den Zusammenhang von Persönlichkeit und Verhalten) und den rationalen »Entscheidungstheorien« deutlich geworden. Statt nach einem konkreten Nutzen (»Satisfaktionsprinzip« der Entscheidungstheorie) handelt man oft nach gewohnten Regeln, die von Eltern oder Verwandten übernommen wurden.In der Regel neigt der Mensch dazu, eingefahrene Denkwege beizubehalten. Diese Denkökonomie ist nützlich, da wir unser Gehirn überfordern würden, wenn wir auf die meisten der täglich zu lösenden Denkaufgaben ausgedehnte Analysen verschwendeten. Allerdings übersehen wir sehr schnell, wo und wann Routine schadet. Die »geborenen« Feinde jeglicher Innovationen sind die jeweiligen Fachleute. Der amerikanische Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn formulierte 1970 in seinem Standardwerk »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen«: »In keiner Weise ist es das Ziel der normalen Wissenschaft, neue Phänomene zu finden; und tatsächlich werden die nicht in die Schublade, welche das Paradigma darstellt, hineinpassenden oft überhaupt nicht gesehen. Normalerweise erheben Wissenschaftler auch nicht den Anspruch, neue Theorien zu finden, und oft genug sind sie intolerant gegenüber den von anderen gefundenen.«Ein einfaches Beispiel weist den Routinestil des Denkens nach: Fordert man jemanden auf, die Vorstellung »Walross mit Zylinder und Zigarre« zu beschreiben oder aufzuzeichnen, wird man wohl immer das Walross mit dem Zylinder auf dem Kopf und der Zigarre im Maul als eine Art Ereigniseinheit vorfinden. Der menschliche Geist ist in der Regel sinnbegierig. Er versucht sich selbst das Sinnwidrigste auf seine Weise verständlich zu machen.Der heuristische StilDer Drang zur Sinnhaftigkeit gilt nicht nur für das routinehafte Denken, bei dem standardisierte Vorurteile eingesetzt werden. Auch das außergewöhnliche bis schöpferische Denken, das neue Denkwege und -ergebnisse anstrebt, ist auf der Suche nach ungelösten Rätseln und deren Auflösung. Nach dem Ausruf von Archimedes »Heureka!« (»Ich habe es gefunden!«) spricht man in der Kognitionspsychologie von einem heuristischen Denkstil, wenn neuartige Lösungen das Ziel des Denkens bilden. Das heuristische Denken kennt eine Reihe von Unterschieden, von denen die Transitivität, das heißt die Art der Zielgestaltung und -erreichung, die wichtigste ist.Die Unterscheidung in Routinestil und heuristischen Denkstil deckt jedoch nicht die ganze Breite der persönlichen Denkverfassungen ab. Weitere Theorien der Denkstile beziehen sich auf die Feldabhängigkeit, das heißt die punktuelle oder globale Einbeziehung des Umfeldes in den Denkprozess, und die Denkausrichtungen, das heißt die realistischen oder irrationalen Denkgewohnheiten eines Menschen. Um Denkstile zu erklären, ist es außerdem wichtig, kognitive Landkarten (räumliche Analogien im geistigen Feld), kognitive Komplexitäten, (Differenzierungsgrade der Begriffssysteme), die nivellierende oder akzentuierende Ausprägung sowie die Spontaneität (impulsiver oder reflektierender Stil) zu berücksichtigen. Insgesamt soll die Theorie der Denkstile klären, wie Menschen denkend mit Problemen umgehen und bei allen Personen vorhandene Muster durch Unterscheidungen aufdecken.Das Denken zeichnet sich vor allen anderen psychischen Prozessen durch seine Bandbreite an individuellen Befähigungen aus. Hatten verschiedene Psychologen, unter anderen William Stern, Richard Pauli und Aloys Wenzl, früher unter Intelligenz eingeengt die Fähigkeit verstanden, Dinge zu »kapieren«, also schnell zu verstehen und Wichtiges von Unwichtigem beziehungsweise Richtiges und Falsches zu trennen, so sehen Psychologen heute, unter anderen David Krech und Richard Crutchfield, Intelligenz grundsätzlicher als »die Fähigkeit zum Fähigkeitserwerb«. Danach kann es also nicht nur die »eine« Intelligenz geben, über die Individuen im unterschiedlichen Ausmaß verfügen, sondern es existieren mehrere »Intelligenzarten« von unterschiedlicher Fähigkeitszusammensetzung. Daraus ergeben sich drei Hauptfragen für die Intelligenzforschung: Welche Fähigkeiten sind das? Wie stehen sie zueinander? Woran sollen sie gemessen werden?Am Anfang der Intelligenzforschung im späten 19. Jahrhundert suchten Forscher wie der Engländer Francis Galton »ein Maß der vererbbaren Genialität«, das an den Stammbäumen berühmter Familien gemessen werden sollte. Ein solcher Versuch war zum Scheitern verurteilt. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts setzte man sich bescheidenere Ziele. Die beiden französischen Forscher Alfred Binet und Théodore Simon erhielten 1905 vom französischen Unterrichtsministerium den Auftrag, Tests zu erstellen, um unintelligente Kinder für die Sonderschule ausgliedern zu können. Binet und Simon veröffentlichten verschiedenen Versionen, deren einflussreichste die von 1908 war. Darin führten die beiden das Staffelprinzip ein: Die Testaufgaben wurden zu alterstypischen Staffeln gruppiert, die von etwa drei Vierteln der Kinder eines bestimmten Alters richtig, von den jüngeren Kindern dagegen meist falsch und von den älteren Kindern fast immer richtig gelöst wurden. Das Maß für die Intelligenz eines Kindes war bei diesem Test die Anzahl der richtig gelösten Aufgaben, aus der sich das Intelligenzalter ableitete.In Amerika stellte der Psychologe Lewis Terman 1912 und 1916 den ersten Binet-Simon-Test auf eine breitere Basis. Durch die Eichung intelligenter Leistungen bei 1000 kalifornischen Kindern wurde ein Wert für die durchschnittliche Intelligenz ermittelt und damit die Grundlage für einen Intelligenzquotienten (IQ) geschaffen, den William Stern als Quotienten aus Intelligenzalter und Lebensalter vorschlug. An der Gesamtbevölkerung geeicht, wurde der Wert 100 als die mittlere Intelligenz festgelegt, wobei Werte zwischen 90 und 110 als »normal« gelten. Menschen mit einem Intelligenzquotienten über 140 Punkte gelten nach diesen Kriterien als »genial«, Personen mit Testwerten unter 70 Punkten dagegen als »schwachsinnig«. Dieser bis heute vielfach überarbeitete Stanford-Revision-Test (Terman überarbeitete den Binet-Simon-Test an der Stanford-Universität in Kalifornien) wird noch in vielen Ländern häufig eingesetzt. Gegen diese formale Bestimmung der Intelligenz erhob sich jedoch schon früh Protest. Ein wesentlicher Schwachpunkt ist der gewählte Maßstab, der sich an schulähnlichen Leistungen orientiert. Gewiss aber gibt dieser Maßstab nicht die Gesamtheit der Lebensleistungen wieder. So ist es nach wie vor umstritten, die Intelligenz am Intelligenzquotienten zu messen.Wie ist die Intelligenz beschaffen?Die Intelligenzforscher interessierten sich neben der Messung der Intelligenz auch zunehmend für die Frage, wie die Intelligenz beschaffen sei. Zwei Theoriegruppen schälten sich heraus, die sich an den Mitte der 1950er-Jahre erschienenen Arbeiten von Richard Meili beziehungsweise Joy Paul Guilford ausrichteten. Meili sagte, Intelligenz sei eine ganzheitliche »leichte Fixierung von Bedeutungen« mit einer Reihe von Einzeleigenschaften für intelligentes Verhalten. Solche »Primäreigenschaften« bilden ein Flächenmodell unterschiedlicher (zum Beispiel achtdimensionaler) Ausdehnung. Beispielsweise bestimmt eine Variante des Hamburg-Wechsler-Intelligenztests acht Intelligenzmerkmale, die je nach Stärke ein individuelles Intelligenzfeld ergeben. Demgegenüber vermutet eine andere strukturelle Theoretikergruppe eine aus der Faktorenanalyse hergeleitete Dimensionierung der individuellen Intelligenz. Sie unterscheiden zwischen Denkoperationen (Erkenntnisse, Gedächtnis, Vergleichsfindung, Bewertung sowie divergente und konvergente Produktion), Denkprodukten (Urteilsklassen, Systemeinheiten, Transformationen und Implikationen) und Denkinhalten (bildliche, symbolische und semantische Inhalte sowie Verhaltensinhalte). Daraus entwickelten Guilford und seine Nachfolger ein Strukturmodell mit 120 unterscheidbaren Intelligenzleistungen, die sich in eine Höhen- (Denkprodukte), Breiten- (Denkinhalte) und Tiefendimension (Denkoperationen) gliedern. Nimmt man, wie Guilford, 120 unterscheidbare Intelligenzleistungen an, ergibt sich zwangsläufig, dass Intelligenz eine individuelle Bündelung unterschiedlicher geistiger Leistungen ist. Man kann deswegen kaum erwarten, berechtigte einfache Urteile über die Intelligenz eines Menschen (»gescheit« oder »dumm«) abgeben zu können.Überblickt man diese Differenzierungsversuche, kann man eine Reihe von Einzelmerkmalen für mehr oder weniger intelligentes Verhalten aufzählen, die kaum jemand vollständig aufweist. Zu ihnen gehören der Sprachausdruck, also die Möglichkeit, sein Anliegen durch Sprache zu veranschaulichen, die Begriffslogik, die Fähigkeit, weit reichende Schlussfolgerungen zu ziehen, und ein gutes Gedächtnis, in das man Informationen leicht speichern und aus dem man sie leicht wieder abrufen kann. Weitere Merkmale für intelligentes Verhalten sind eine praktisch-technische Begabung, sodass man sein Denken in Handeln umsetzen kann, ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen, durch das man sich sowohl im Gelände wie auch auf geistigen Feldern gut zurechtfinden kann und ein gewisses Maß an Ausdauer. Intelligenz, die nur aus Gedankenblitzen besteht, reicht nicht aus, um Probleme zu bewältigen. Der Intelligente braucht das ständige, zähe Ringen mit Problemen.MentalstörungenDie Vielschichtigkeit beim Denken spiegelt sich auch in der Vielfalt ihrer Störungen wider. Die klinische Psychologie unterscheidet drei Gruppen geistiger Störungen: die geistige Behinderung, die geistige Leistungsstörung und die geistige Verirrung.Geistig behinderte MenschenGeistige Behinderungen sind angeborene, traumatische oder altersbedingte Hirnstörungen, die eine volle Ausübung von »normaler« Geistestätigkeit verhindern. Nach der Definition der »Amerikanischen Gesellschaft für geistige Behinderung« bezieht sich »geistige Behinderung auf signifikant unterdurchschnittliche intellektuelle Funktionen, die gleichzeitig mit Mängeln im Anpassungsverhalten existieren und die sich während des Entwicklungsalters manifestiert haben«. Man unterscheidet verschiedene Grade von Behinderungen, die am Intelligenzquotienten gemessen werden. Die oben genannte Gesellschaft definiert einen leichten Grad an Schwachsinn zwischen 50 und 69 IQ-Punkten (Debilität), einen mittleren Grad bei 35 bis 49 Punkten (Imbezillität) und einem schweren bis schwersten Grad unterhalb von 34 Punkten (Idiotie). Diese rein auf den Intelligenzquotienten ausgerichtete Festlegung stößt auf Widerstand, weil sie die oft vorhandenen besonderen Fähigkeiten der Behinderten zu Freude, Anhänglichkeit und zu verschiedenen Spielformen nicht berücksichtigt.Geistige LeistungsstörungenIm Unterschied zu den geistigen Behinderungen sind die geistigen Leistungsstörungen partielle Funktionsstörungen, die nicht die Gesamtintelligenz, sondern nur das Denken in bestimmten Bereichen hemmen. Die Gedächtnis- und Erinnerungsstörungen verhindern, dass bereits Gedachtes behalten und in neue Problemlösungen eingebunden wird. Die eigentlichen Denkbehinderungen sind unter anderem sprunghaftes Denken, leicht ablenkbares Denken oder perseveratives Denken, bei dem die gleichen Denkinhalte ständig wiederkehren. Ferner gehören hierher die Bewusstseinsstörungen, von den Bewusstseinstrübungen bis zum Delirium. Schließlich gibt es die Gruppe der Aktivitätsstörungen, bei denen das Gedachte nicht in eine Handlung umgesetzt werden kann. Das häufigste Beispiel sind die Entscheidungsstörungen, bei denen die Wahl zwischen Alternativen nicht beendet oder getroffene Entscheidungen nicht durchgeführt werden. Die neuronalen Ursachen dieser Beeinträchtigungen sind noch kaum bekannt. Man weiß lediglich, dass sie neurochemisch (durch Neurotransmitter), neuroelektrisch (in den Neuronennetzen), in der Neuroisolierschicht (Gliamasse), durch mechanische Schädigungen (Prellungen der Hirnmasse) oder auch durch psychische Ursachen entstehen können. Letzteres ist der Fall, wenn die Ursache für Entscheidungsstörungen häufige Fehlentscheidungen, Abgabe des Entscheidungsrisikos an andere oder eine verhinderte Entscheidungserfahrung, zum Beispiel in der kindlichen Erziehung, sind.Geistige VerirrungDie geistige Verirrung ist ein weites Feld an Mentalstörungen. Sie reichen vom vorurteilsbehafteten Denken über die vielfältigen Formen des Aberglaubens, der Leichtgläubigkeit bis zum paranormalen, also dem rational nicht verständlichen Denken (zum Beispiel Wahrsagen oder Kartenlegen) und zu irrationalen Gruppenbildungen (zum Beispiel manche Sekten). Man erinnert sich an Goethes Reimspruch: »Dass Glück ihm günstig sei, was hilfts dem Stöffel? Denn regnets Brei, fehlt ihm der Löffel.« Trotz geistiger Intaktheit kann man in der Anwendung des Denkens versagen. Der Dichter Franz Grillparzer bekannte von sich: »Gescheit gedacht und dumm gehandelt, so bin ich meine Tage durchs Leben gewandelt.« Es kann also durchaus möglich sein, dass man in der Handhabung seiner vorhandenen Intelligenz scheitert. Sigmund Freud erzählt in seinem Buch »Der Witz« die Geschichte vom Schadchen, dem jüdischen Heiratsvermittler: »Der Bräutigam macht mit dem Vermittler den ersten Besuch im Hause der Braut, und während sie im Salon auf das Erscheinen der Familie warten, macht der Vermittler auf einen Glasschrank aufmerksam, in welchem die schönsten Silbergeräte zur Schau gestellt sind. »Da schauen Sie hin, an diesen Sachen können Sie sehen, wie reich diese Leute sind.« — »Aber«, fragt der misstrauische junge Mann, »wäre es denn nicht möglich, dass diese schönen Sachen nur für die Gelegenheit zusammengeborgt sind, um den Eindruck des Reichtums zu machen?« — »Was fällt Ihnen ein?«, antwortet der Vermittler abweisend. »Wer wird denn den Leuten was borgen!«« — Freud nennt diesen Fehler »automatisches Denken« — zum eigenen Schaden.Es gibt viele Formen von geistiger Abirrung, von denen zwei »logische« Beispiele und ein »manipulatorisches« herausgegriffen sein sollen. Ein häufiger Denkfehler besteht darin, dass fehlerhaft verallgemeinert wird, indem eine eingegrenzt gültige Aussage zu einer allgemein gültigen Aussage gemacht wird: »Was du nicht vergessen hast, beherrschst du noch. Arabisch hast du nicht vergessen, also beherrschst du Arabisch.« Solche Denkfehler spielen oft bei Vorurteilen gegen bestimmte Menschengruppen eine Rolle. — Der Zirkelbeweis begründet durch die eigenen Voraussetzungen: »Dass Gott existiert, sagt die Bibel. Die Bibel ist Gottes Wort. Also existiert Gott.« — Geistig zu manipulieren, ist tägliche Praxis. In einem alten Buch von Karl Otto Erdmann mit dem (von Schopenhauer entlehnten) Titel »Die Kunst recht zu behalten« steht folgendes Beispiel: Um einen falschen Satz glaubhaft zu machen, genügt oft schon, ein suggestives »bekanntlich« voranzusetzen: »Bekanntlich haben die Eskimos keine Backenzähne.«Was geistige Verirrung ist, wird immer kontrovers diskutiert werden. Da häufig Werturteile und ideologische Auffassungen im Geistigen enthalten sind, ist eine Einigung nur schwer möglich. Das heißt aber nicht, dass man gegen mangelnde Kritikfähigkeit gleichgültig sein sollte. Es wäre wünschenswert, diese Kritikfähigkeit besser zu schulen, als es bisher geschieht.Prof. Dr. Hellmuth BeneschWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Problemlösungen beim DenkenCalvin, William H.: Wie das Gehirn denkt. Die Evolution der Intelligenz. Aus dem Englischen. Heidelberg u. a. 1998.Gould, James L. / Gould, Carol Grant: Bewußtsein bei Tieren. Ursprünge von Denken, Lernen und Sprechen. Aus dem Englischen. Heidelberg u. a. 1997.Guilford, Joy P. / Hoepfner, Ralph: Analyse der Intelligenz. Aus dem Englischen. Weinheim u. a. 1976.Guthke, Jürgen: Intelligenz im Test. Göttingen u. a. 1996.Intelligenz und Bewußtsein. GEO-Wissen, Nr. 3/1992. Neudruck Hamburg 1994.Kail, Robert / Pellegrino, James W.: Menschliche Intelligenz. Aus dem Englischen. Heidelberg 21989.Piaget, Jean: Gesammelte Werke. Studienausgabe, Band 2: Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde. Aus dem Französischen. Stuttgart 21998.Wertheimer, Max: Produktives Denken. Aus dem Englischen. Frankfurt am Main 21964.
Universal-Lexikon. 2012.